Ein Essay von Steve über die Good old Days in Bangkok oder vom Leben im Hier und Jetzt.
Der wellige Bauzaun endet an der grauen, geschundenen Hauswand. An dieser Stelle in der Soi 22 stand früher Danny’s Corner, die kleine Bar im Westernstil, mein nächtliches Wohnzimmer und Theaterloge. Von hier aus beobachtete ich die Straße, traf Menschen, wälzte Gedanken.
Gleich daneben: eine schmale Stichstraße kroch über einen Parkplatz zwischen ausgewohnten Hausruinen. Die Reste des ehemaligen Washington Squares lugten aus dunklen Augen.
Diese Welt, als sie noch in voller Blühe stand, kannte ich nur aus sporadischen Besuchen, ich gehörte nicht zu der Generation der hier lebenden Farangs, wohnte in der Gegend der mondänen Silom Road. Heute bedauere ich diese Ignoranz.
Erinnerungen werden wach, verdrängen den Straßenlärm, die patrouillierenden Taxikorsos, die lauten Bars, die Mädchen in bunten T-shorts vor ihren Massage Salons: „Massage Söör welcome, come in Söör“.
Durch die Synapsen wabert das Bild der vereinsamten Bar 52, eine der übrig gebliebenen Trinkhöhlen des ehemaligen Washington Squares.
Ja, jetzt sehe ich sie vor mir. Bessie bedankt sich für den Drink. Wir stoßen an und wünschten uns gegenseitig Glück, chok dii. Ihr Gesicht trägt stolz die Spuren der Vergangenheit. Sie alterte mit ihren Gästen, den Veteranen des Vietnamkrieges, den ersten Travellern, den ersten Residenten. Morituri te salutant wisperten die verlassenen Ruinen.
Stählerne Raupen fraßen sich durch die leeren Gebäude. Einige Schilder am Eingang der engen Soi hielten die Erinnerung wach: Bourbon Street, Silver Dollar, Ancient traditional Massage, Taffies Hairy Pie Club.
Auf dem Weg zur Toilette betrachtete ich die Fotos an der Wand, erkannte auf ihnen die junge Bessie inmitten lachender Farangs in Khaki-Hemden. Die wenigen Übriggebliebenen schwelgten in good old Days, erzählten verblichene Geschichten, immer die gleichen: über Dennis House, „the Doc“, Gator, Crazy John, Cowboy John, Mekong Kurt und natürlich George Pipas, den früheren Inhaber der Lone Star Bar.
Dieser Square, Little America, das war Vergangenheit, ein vergilbtes Kapitel aus der Geburtsstunde des modernen Bangkoks.
Veteranen der amerikanischen Kriege, Arbeiter von den Ölfeldern des Mittleren Ostens und auch einige Deutsche fanden hier ein Zuhause.
Sie lebten in einer besonderen Symbiose mit dem Square, den anderen Squaronians, den Drinks, den Mädchen. Ihr Leben, das war der Square; ihre Schicksale bunt, einzigartig.
Samsara, der buddhistische Kreislauf des Lebens, fordert Tribut. Die meisten Squaronians verließen das moderne, schnelllebige Bangkok, eine Stadt, die sie nicht mehr verstanden. Sie gingen in ihre frühere Heimat, krank, müde, und um zu sterben.
Sie lebten ein intensives Leben, ein Leben, das sie zeichnete und schließlich zerstörte. Werden sie in ihrer Todesstunde bereuen? Werden sie ihren Nachbarn, den mit dem gestutzten Rasen vor dem Reihenhaus, beneiden?
Bessie antwortete lange nicht. „They eat here, they drunk here, they fucked here, some died here, I think they were happy here.“ Ihre Augen waren leer. Melancholisch schweifte ihr Blick über die Ruinen. Die Nacht war schwül. Über uns schwelgte der schwarze Himmel.
Der leuchtende Vollmond spielte mit den Wolken, warf Schatten auf die verlassenen Gemäuer, verwandelte den Square in eine phantasmagorische Landschaft. Hier starb das alte Bangkok, die alte Zeit; eine Zeit ohne Shopping-Malls, Sportsbars, Dating-Websites, Mädchen mit zwei Handys, Starbucks und BTS.
Von Danny’s Corner wehte Lachen herüber. Bessie brachte einen weiteren Gin and Tonic. Aus ihrem Gesicht wich die Traurigkeit. Sie wollte in ihr Dorf im Isaan zurückkehren, vielleicht mit einem alten Farang Freund.
Dann eines Tages beseitigten die schweren Baumaschinen die letzten Reste der alten Zeit und „Danny’s Corner“ zusammen mit dem „Sidewalk Café“ gleich mit.
Jetzt verlor auch ich ein Stück meiner Heimat. Danny’s Corner war mein fester Anker.
Das menschliche Gehirn kann den Ablauf des Lebens in der Zeit nicht erfassen, zerteilt ihn in messbare Einheiten, begreift nur die Standbilder. Wenn die Bilder wie in einem Projektor schnell ablaufen, erahnen wir den Film, das Leben, ängstigen uns vor dem Unbegreiflichen.
Danny’s Corner war ein Standbild, vermittelte Sicherheit und Geborgenheit in dieser ungebändigten Stadt.
Einige Tage später erblickte ich die Eigentümerin von Danny’s Corner. Sie lächelte mir zu: „Ja, es wurde abgerissen. Hier entsteht eine neue Shopping-Mall, genauso wie gegenüber dem Emporium, mit direktem Zugang von der BTS.
Das neue Danny’s eröffnet im Erdgeschoss des Holiday Inns. Es wird größer und schöner.“ Wann werden auch die anderen alten Häuser in dieser Straße modernen Apartments weichen, mit Weinbars, Starbucks und amerikanischem Steakhaus?
Werde ich dann im neuen Danny’s vor einem SangSom den Touristen von den old good Days der Soi 22 erzählen? Das Sterben geht weiter: Hemingway’s in der Soi 14, Cheap Charly in Soi 11, Farangs weinen bittere Tränen.
Warum schaffen es westliche Gehirne nicht, in der Gegenwart zu leben, haften an dem Vergangenen, ängstigen sich vor dem Neuen. Thais lachen über das Verblichene, freuen sich über das Moderne, Neue, Schöne.
Buddha klatscht in die Hände und wiederholt unermüdlich: Laufe nicht der Vergangenheit nach, verliere dich nicht in der Zukunft. Die Vergangenheit ist nicht mehr. Die Zukunft ist noch nicht gekommen. Das Leben ist hier und jetzt.